Krisenbewältigung/Krisenintervention
Die Akute Belastungsreaktion (ABR), englisch Acute Stress Disorder (ASD), ist die Folge einer extremen psychischen Belastung, für die der Betroffene keine geeignete Bewältigungsstrategie besitzt. Im Allgemeinen ist diese Krisensituation mit der Konfrontation mit körperlicher oder seelischer Ausnahmesituationen/Gewalt oder einer Verlustsituation verbunden und stellt eine normale Reaktion der menschlichen Psyche auf eine außergewöhnliche Erfahrung dar.
Unter psychosozialen Krisen verstehen wir den Verlust des seelischen Gleichgewichts, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und vom Ausmaß her seine durch frühere Erfahrungen erworbenen Fähigkeiten und erprobten Hilfsmittel zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder zur Bewältigung seiner Lebenssituation überfordern.
Häufige Auslöser sind der Tod eines Angehörigen, das Erleben von Unfällen, Verlust des Jobs, Pensionierung, Scheidung oder das Erfahren von Gewalt. Abhängig von der individuellen Konstitution des Betroffenen können aber auch objektiv weniger einschneidende Erlebnisse zu einer Akuten Belastungsreaktion führen.
Emotionale Dynamik / Verlauf bei schockierenden Nachrichten:
Eine Krise setzt üblicherweise mit dem Erleben der belastenden Situation ein und dauert Stunden bis Tage, in seltenen Fällen Wochen. Dabei unterscheiden sich die Symptome in der Akutphase (1-6) von denen der anschließenden Verarbeitungsphase (7-8). Halten die unten genannten Symptome der Verarbeitungsphase länger als 4 Wochen an und liegt dadurch eine psychische oder soziale Beeinträchtigung vor, so spricht man von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), bei der es sich um eine therapiebedürftige Erkrankung handelt.
Symptome:
In der Akutphase (1-6) - also im so genannten peritraumatischen Zeitraum - ist vor allem eine Betäubung (Schock) der betroffenen Person auffällig. Sie scheint wichtige Aspekte der Situation nicht zu bemerken oder führt Handlungen durch, die unangebracht oder völlig sinnlos erscheinen (Bewusstseinseinengung, Wahrnehmungs- und Reizverarbeitungsstörung, Desorientiertheit). Außerdem kommen dissoziative Symptome vor, also das Gefühl, nicht man selbst zu sein oder alles wie durch einen Filter oder eine Kamera zu erleben (Depersonalisation, Derealisation). Meistens am eindrucksvollsten für den Außenstehenden sind die starken emotionalen Schwankungen des Menschen, der eine Akute Belastungsreaktion erlebt.
Wut oder Aggression (5) kann sich innerhalb kurzer Zeit mit Ausgeprägte Trauer (6) oder scheinbarer Teilnahmslosigkeit (3) abwechseln. Begleitet werden können die oben genannten Zeichen von einer vegetativen Reaktion, also von allgemeinen Stressreaktionen (4) wie Schwitzen, Herzrasen oder Übelkeit.
In der nachfolgenden Verarbeitungsphase (7-8) verändern sich die Beschwerden, nehmen normalerweise im Verlauf der Verarbeitung ab und verschwinden üblicherweise völlig. In dieser Verarbeitungsphase kommt es oft zu einem Wiedererleben (Intrusion) der Ereignisse, also dem Eindringen des Erlebten in den Alltag. Das kann in Form von Albträumen oder auch als sich aufdrängende Erinnerungen (Flashbacks) geschehen. Diese Flashbacks werden häufig von Wahrnehmungen, die an die belastende Situation erinnern, ausgelöst („getriggert“). Besonders häufig sind dies Gerüche oder Geräusche, zum Beispiel der Geruch von verbranntem Fleisch oder der Lärm eines Autounfalls. Häufige Folge dieses Wiedererlebens ist ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten, zum Beispiel fährt der Betroffene nach einem Verkehrsunfall zunächst nicht mehr dieselbe Strecke wie vorher. Außerdem kann es zu emotionaler Verflachung kommen, also zu einer eingeschränkten Empfindungsfähigkeit. Letztlich findet sich häufig ein erhöhtes Erregungsniveau (Arousal) mit Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit oder Reizbarkeit.
Umgang mit Betroffenen:
Die wichtigsten Sofortmaßnahmen sind das Wegbringen des Betroffenen aus dem Gefahrenbereich und das Herstellen einer geschützten Umgebung.
Um der Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung vorzubeugen, gibt es Präventionsansätze:
Im Rettungswesen oder bei der Arbeit der Polizei können in den meisten Regionen zur Betreuung von Angehörigen, Unfallzeugen und anderen Betroffenen psychologisch geschulte Mitarbeiter von so genannten Kriseninterventionsteams (KIT) nachgefordert werden, die eine Krisenintervention im Rettungsdienst durchführen. Für Einsatzkräfte, die unter dem Einfluss eines belastenden Einsatzes stehen, gibt es gesonderte Dienste, die Stressbewältigung nach belastenden Ereignissen (SbE), durchgeführt von Einsatznachsorgeteams (ENT).
In Fällen, in denen das nicht möglich ist, können Laien oder sonstige Einsatzkräfte vor Ort eine Basiskrisenintervention durchführen. Begünstigend wirken Zuwendung und ein fester Ansprechpartner, da Studien gezeigt haben, dass Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation hilflos und alleine fühlen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Akuten Belastungsreaktion aufweisen (Lit.: Elklit/Brink, 2003). Es wird davon ausgegangen, dass eine behutsame Aktivierung der Betroffenen mit dem Ziel, die durch das Erleben des auslösenden Ereignisses aufgezwungene Opferrolle zu verlassen, hilfreich ist. Im Falle eines Todesfalls als Auslöser wird hierfür vor allem die Möglichkeit zur zeitnahen Abschiednahme befürwortet (Lit.: Trappe, 2001). Ein wichtiger Ansatzpunkt ist das soziale Netz, das sich aus Familie und sozialem Umfeld des Betroffenen sowie aus professionellen Beratungs- und Hilfsangeboten zusammensetzt und eine weitere Versorgung gewährleistet. Diese Maßnahmen sollen die Handlungsfähigkeit wieder herstellen und die Situation meistern helfen, um die traumatische Situation in die eigene Biographie zu integrieren und das Ereignis verarbeiten zu können.
Alternative Krisenmodelle:
Traumatische Krise (Cullberg 1978)
Plötzlich auftretende Krisensituation von allgemein akzeptierter Natur, welche die psychische Identität, die soziale Existenz und die Sicherheit bedroht. Auslösende Ereignisse z.B. Tod eines nahe stehenden Menschen, Krankheit, Invalidität, Vergewaltigung, Trennung, Kündigung, äußere Katastrophen etc.
Verlauf:
1. Schockphase: Konfrontation mit einer traumatischen Situation
2. Reaktionsphase:
-> Mobilisierung innerer und äußerer Ressourcen zur Anpassung
-> Alkohol-, Medikamenten-, Drogenmissbrauch
-> Körperliche Krankheit/Chronifizierung
-> suizidales Verhalten
3. Bearbeitungsphase:
-> Betrauerung, gelingende Anpassung, Verarbeitung, neue Copingstrategien, psychische Wiederherstellung
-> Neurotisierung
-> Fixierung
4. Neuorientierung: Integration der Krisenerfahrung, Selbstwertgefühl wiederhergestellt, neue Beziehungen ("Objekte")
Lebensveränderungskrisen (Caplan 1964)
Lebensveränderungen gehören zu einem normalen Lebenslauf, sie betreffen den psychischen, den sozialen und biologischen Bereich (Pubertät, Altern). Dennoch können solche Ereignisse als Krisenanlass dienen: Schuleintritt, Auszug aus dem Elternhaus, Einstieg in den Beruf, Heirat, Kinder kriegen, Wechsel des Arbeitsplatzes, Umzug, Auszug der eigenen Kinder, Pensionierung, Einzug ins Altersheim.
Verlauf:
1. Konfrontation mit einer Veränderungssituation
2. Bekanntes Problemlösungsverhalten
3. Ineffektivität/subjektives Versagen
4. Reaktionsphase: Mobilisierung innerer und äußerer Ressourcen
-> Bewältigung
-> Rückzug/Resignation
-> Chronifizierung
5. Psychische Dekompensation -> Vollbild der Krise
Phasen von Krisen (Juen et.al. 2003, S.40)
Phasen |
normale Reaktion |
pathalogische Reaktion |
1. Aufschrei |
Angst, Trauer, Wut |
Panik, emotionale Überwältigung, totale Erschöpfung, entgleisende Destruktivität, totales (Selbst-) Aufgeben |
2. Verleugnung |
Verweigerung der Erinnerung an das traumatische Ereignis |
Extreme Vermeidung, Substanzmissbrauch, um die Schmerzen zu verleugnen |
3. Intrusionen |
Die Realität des Geschehens an/erkennen |
Überflutung durch ständige Bilder und Gedanken vom Ereignis |
4. Durcharbeiten |
"Weiterleben", bzw. zum Leben zurückkehren |
Psychosomatische Störungen |
5. Vollendung |
|
Persönlichkeitsveränderungen, Unmöglichkeit zur Rückkehr in den Arbeitsbereich oder sozialen Funktionsbereich |